Der Mutmacher
Der Mutmacher 18
Liebe Elzerinnen und Elzer,
zum 3. Juni 2021
wir tragen in diesen Zeiten oft Masken, und wir sehen von einander nicht das ganze Gesicht, sondern oft nur die Augen. Doch wir sprechen nicht nur mit dem Mund, sondern eben auch mit unseren Augen:
Im Foyer des Pflegeheims war mir gesagt worden, dass die ältere Dame, die ich besuchen wollte, bettlägerig und nicht ansprechbar sei. Als ich kurz darauf ihr Zimmer betrat, sah ich sie unter ihrer Decke im Bett liegen. Ihr schütteres graues Haar, sorgsam nach hinten gekämmt, legte sich um ihren alten Kopf wie ein Schleier. Sie schlief. Unbedeckt lagen ihre Arme neben ihrem Körper. Sie atmete ruhig. Nachdem ich eine Weile ihre stille Gestalt betrachtet hatte, sprach ich sie an und berührte vorsichtig ihren rechten Arm. Ihre Augen öffneten sich und sahen mich an.
Ich nahm mir einen Stuhl, setzte mich zu ihr und schwieg mit ihr: sie, die nicht reden konnte, schwieg mit mir, und ich, der ich nicht reden wollte, schwieg mit ihr. Stille begann sich zwischen uns zu entfalten - eine Stille, die nicht gestört werden wollte. Ab und zu schauten wir uns an, dann blickten wir wieder von einander weg. Wir waren beiein-ander.
"Warum müssen manche Menschen am Ende ihres Lebens so daliegen, ohne etwas tun zu können?", hat mich einmal eine Frau gefragt, deren Schwiegermutter bettlägerig war.
Liebe Leserinnen und Leser, ich weiß es nicht. Ich würde selbst gerne wissen, warum Gott den einen pflegebedürftig werden lässt, einen anderen Menschen aber nicht.
Was immer Gottes Gedanken sein mögen, mir scheinen jedenfalls sehr eingeschränkte und pflegebedürftige Menschen, Aufgabe und Gabe an uns Gesündere zu sein.
Sie bilden für uns eine Aufgabe, insofern sie uns auffordern, uns um sie zu sorgen. Alle, die sich um pflegebedürftige Menschen kümmern, wissen, welch eine große Aufgabe dies sein und wie sehr diese Aufgabe an den Kräften zehren kann.
Ich habe darüber hinaus den Eindruck, dass manche der bettlägerigen Menschen auch eine Gabe an uns sein können. In ihrer Nähe können wir manchmal einen tiefen Frieden erleben.
Für mich sind solche Besuche bei Menschen, die intensiver Pflege bedürfen, oft besondere Begegnungen, weil ich mit ihnen still sein und mir in ihrer Gegenwart die gemeinsame Zeit bewusst schenken lassen kann. Ich erlebe in ihrer Nähe neu: Gemeinsame Zeit mit anderen Menschen ist ein Gottesgeschenk.
Als es an der Zeit war, die ältere Dame zu verlassen, habe ich ein Vaterunser gebetet und sie gesegnet. Sie schaute mich dabei an und mir war, als ob ein Lächeln über ihre Augen flog. Es kam mir vor, als ob sie mir mit ihren Augen „Danke“ sagte.
Dr. Jens-Arne Edelmann,
Pastor an der Peter-und-Paul-Kirche in Elze
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unter "Gottesdienst" ist die ganze Reihe zu finden.
Hintergrundfoto: Webredaktion